Zwei Bier, ein Gin Tonic, ein Go-Brett und eine Gitarre. Zwei Physiker*innen und ein Musik-wissenschaftler. Das Spiel ist beendet und nach ausgiebigen Gesprächen über transzendente Zahlen in der Mathematik, die Infinitesimalrechnung und leuchtende Wetterphänomene durch Schwerewellen in der Atmosphäre, wird die Gitarre ausgepackt. „Du kennst doch sicher Hejo, spann den Wagen an?“. Ich nicke. „...steht in Moll, richtig?“ MARK spielt zwei Akkorde im Wechsel und singt dazu. „Das kann man doch theoretisch auch in Dur singen, klingt dann so.“ Doktor SCHLUTOW hat eine schöne Stimme und die Augen der Frau Doktor WILMS funkeln, während er das Lied eine Terz tiefer anstimmt. „Wenn man jetzt die Melodie in Moll singt, aber in Dur be-gleitet, dann bekommt man was dazwischen. Sollte man das mit Septakkorden begleiten?“ Ich rieche die Schwebe einer musikalischen Kippfigur und bin begeistert: „Da sollte man eine Sinfonie draus machen!“ sage ich und es wird gelacht.
Eine Sinfonie ist es nicht geworden, aber zwei Monate später ist doch ein Resultat zu hören: Moll, das nach Dur riecht. Durstrahlen die einen Mollschatten werfen. Sonnenschein bricht durch die schwarze Wolkenfront und der Wind weht eine Schwerewelle in die gold’nen Garben auf dem Felde. Langwellige Schwebungen entstehen in der Musik durch milde Dissonanz. Ich hoffe, mir ist der musikalische Reflex von Doktor SCHLUTOWS Dissertationsthema gelungen. Das Prin-zip folgt jedenfalls der nächtlichen Schnapsidee: das einleitende e-Moll der Harfe wird durch den dezent gezupften Bass in sein paralleles Cj7 umgedeutet. Das Spiel mit der Unterterz ist zum Prinzip des Stücks geworden. Ich habe das Bedürfnis, MARK eine musikalische Fußnote zu set-zen. Wie könnte das besser geschehen, als durch den Kanon selbst? In langen, gravitätischenWellen und durch den drei Mal dreiteiligen Takt runder, als die quadratisch geviertelte Vorlage, ist er im Hintergrund präsent. Die Goldenen Ähren sind damit auch zur Subjektreflexion des Kanons geworden: Ein Werk, in dem sich Gedanken in der Form eines Ernteliedes widerspiegeln. Gedanken über den Corona-Herbst und den Ertrag investierter Lebenszeit in die Wissenschaft der Komposition. Gedanken darüber, ob wir in einer Zeitenwende leben und was das für düstere Wolken sind, die von rechts außen in die Bildfläche drängen. Wolken, die versuchen das Romantische für sich zu reklamie- ren, indem sie auf HERAKLITS panta rhei und das ewige Werden im Fluss der Zeit referieren, wäh-rend gleichzeitig von einer 1000-jährigen Zukunft und dem Holocaust-Mahnmal als Schandfleck im Herzen Deutschlands gesprochen wird. Darf man das in Deutschland wieder sagen? Natür-lich darf man, schließlich sind wir presse- und meinungsfrei. Aber man darf Björn auch sagen, wie hässlich und unromantisch eine solche Rede ist. Man kann und sollte ihn bei seinem richti- gen Namen nennen und die Ängste der ohnehin schon besorgten Bürger ernst nehmen. Die Migranten sind bestimmt nicht schuld daran, dass das globale Weltgefüge knarzt. Jene Flüchti- gen, die wegen der Aufstände des Arabischen Frühlings aus ihrer Heimat vertrieben wurden, glau-ben nämlich fest an das, was bei uns durch den Rechtsruck bröckelt: Demokratie, Presse- sowie Meinungsfreiheit und Wohlstand durch eine säkulare Ordnung des Staates. Sie glauben – wie ich – an eine von wissenschaftlicher Ratio und Vernunft geprägte, offene Gesellschaft. Gewiss gibt es auch extreme Islamisten unter den Migranten, so wie es unter uns Rechts- und Linksext- reme gibt. Ja, der Wind treibt Regen übers Land! Und ja, vielleicht leben wir in einer Zeitenwen-de. Das kann schon beängstigend sein.
Um auf den Paradigmenwechsel dieser Zeitenwende zu reagieren, könnte es sinnvoll sein, die Sprache der postfaktischen Rede zu lernen, weil nur so diejenigen umgestimmt werden können, die nicht an Vernunft und Wissenschaft glauben wollen. Es ist beunruhigend, dass sich in der inter-nationalen Politik eine Rhetorik durchzusetzen scheint, die jenseits der Fakten argumentiert und stattdessen auf größtmögliche Emotionalisierung abzielt. Ist das nicht eigentlich das Metier der Kunst? Künstler der Welt, lasst euch diese Art der Rede nicht aus den Händen nehmen! Man muss im Übrigen nicht lügen, um postfaktisch zu sprechen, sondern nur verstanden haben, dass die Faktizität für die Wirkmacht einer Erzählung schlichtweg keine Rolle spielt. Wir brauchen also eine Rede, die eine allgemeine Stimmung jenseits der Fakten reflektiert und damit eine neue Heimat anbietet, an die wir glauben wollen. Heute ist es noch eine Stimmung, die jeden Moment zu kippen droht, weil das Weltgefüge ächzt. In der neuen Rechten kehrt nicht nur der hässliche Deutsche zurück, sondern mit seinen Gebärden wird auch die Sehnsucht nach einer Heimat stark, die wir gerade zu verlieren scheinen: Eine weltoffene, multikulturelle und säkulare Demo-kratie in der Vernunft und Mitgefühl regieren. Eine Welt, in der man über offene Grenzen läuft, als gäbe es sie nicht und sich mit einem Schmunzeln an das Sprachenwirrwarr vergangener Erasmus-Partys erinnert. Wo man sich frei bewegen und sein darf, wer man ist, lieben, wen man liebt und essen, was einem schmeckt und guttut. Eine Welt, in der man sich wieder umarmt, lacht und feiert, in der man sich nicht nur nahesteht, sondern sich auch wirklich nahe ist. Auf diese Welt freue ich mich, denn ich bin sicher, dass sie kommen wird!